Warum Barrierefreiheit für alle wichtig ist
Warum der European Accessibility Act das falsche Motiv ist
Durch den Beschluss des European Accessibility Act der Europäischen Union hat das Thema Barrierefreiheit auch in Deutschland nochmal einiges an Schwung bekommen. Mit Inkrafttreten der Richtlinie werden ab 2025 die Anforderungen an viele Shop- und Websitebetreiber wesentlich schärfer.
Viele beschäftigen sich daher jetzt mit dem Thema hauptsächlich aus der Angst heraus, verklagt oder abgemahnt zu werden. Meiner Meinung nach geht das am eigentlichen Ziel vorbei. Bei Barrierefreiheit geht es schließlich nicht nur darum, nicht verklagt zu werden. Agenturen und Webentwickler*innen stehen vielmehr vor der Aufgabe, ein Produkt zu entwickeln, mit dem alle Nutzenden agieren können, egal ob sie eine Einschränkung haben oder nicht.
In eigener Sache
Für mich ist das Thema Barrierefreiheit ein sehr persönliches. Ich habe seit ich 7 Jahre alt bin eine halbseitige Spastik und kann meine linke Hand daher nur sehr eingeschränkt nutzen. So habe ich bereits einige persönliche Erfahrungen gesammelt und kämpfe schon seit einiger Zeit für mehr Sichtbarkeit für dieses Thema.
Auf der FOSDEM 2024 in Brüssel haben Martin Helmich und ich gemeinsam einen Talk zu diesem Thema gehalten. In diesem Beitrag fasse ich den Vortag zusammen, auf der Website der FOSDEM stehen sowohl die Slides, als auch eine Aufzeichnung der Session bereit.
Welche Barrieren gibt es?
Beim Thema Barrierefreiheit denken viele sofort an Menschen mit offensichtlichen Behinderungen, z.B. blinde Personen. Das ist aber lange nicht alles. Es gibt ganz unterschiedliche Arten von Einschränkungen – nicht nur körperliche.
Wahrnehmung
Für viele die naheliegendsten Beeinträchtigungen, wenn es ums Web geht: Einschränkungen der Wahrnehmung und der Sinne. Dazu zählen aber nicht nur komplette Blindheit oder Taubheit, sondern auch ihre Abstufungen. Jede Person, die eine Brille trägt, hat eine Sehbehinderung. In Deutschland sind das übrigens 67 % der Erwachsenen (ab 16 Jahre) (Quelle Berufsverband der Augenärzte). Zusätzlich gibt es Farbwahrnehmungsstörungen wie die Rot-Grün-Schwäche oder eine komplette Farbenblindheit.
Story:
In einer Vorlesung im Master-Studium zeigte der Professor eine Folie mit einem Tortendiagramm. Ich glaube, es ging um die Verbreitung von API-Architekturen. Ein Kommilitone fragte, was dieser große Punkt auf der Folie soll. Stellte sich heraus: Der Student kann nur Graustufen sehen. Und der Professor hatte die Farben der einzelnen Stücke des Diagramms so ungünstig gewählt, dass – in Kombination mit dem nicht ganz so guten Beamer – für diesen Studenten wirklich alle Stücke denselben Grauton hatten. Vorher war diese Einschränkung niemandem bewusst und für alle anderen war das gezeigte ein legitimes Diagramm.
Die Augen sind ja nicht unser einziges Sinnesorgan. Viele Menschen sind auf ein Hörgerät angewiesen oder sind komplett taub. In Zeiten von Social Media, Webvideo und Podcasts kommen viele Inhalte im Internet auch nicht mehr ohne Ton aus. Die anderen Sinne – Schmecken, Riechen, Tasten – spielen im digitalen Kontext keine so große Rolle, aber …
Motorik
Auch motorische Einschränkungen können herausfordernd sein. Ich kann zum Beispiel meine linke Hand am Rechner nicht benutzen. Eine Taste gedrückt halten und gleichzeitig mit der Maus klicken? Geht nur dank der Apple MagicMouse oder am Laptop mit Trackpad. An meinem Windows-Rechner habe ich lange nach einer für mich funktionierenden Lösung gesucht. Aber auch Krankheitsbilder wie Parkinson sind problematisch, wenn kleine, feinmotorische Bewegungen schwerfallen.
Wenn also die Eingabe über Maus nicht möglich ist, braucht es andere Eingabemöglichkeiten. Nutzer mit motorischen Einschränkungen sind daher oft auf Tastaturnavigation oder Sprachsteuerung angewiesen. Sehr beeindruckend fand ich den Vortrag von Emily Shea (Video), in dem sie demonstriert, wie sie ihren Rechner nur über Spracheingabe bedient und so programmiert.
Kognition
Zu den auf den ersten Blick weniger auffälligen Barrieren gehört die kognitive Belastung (engl. Cognitive Load), die dem Nutzer abverlangt wird. Hier spielt zum Beispiel ein Aspekt eine Rolle, der im Marketing oft zitiert wird: das schlechte Kurzzeitgedächtnis des Menschen. Ein Menü sollte daher gut strukturiert sein und nicht mehr als 8 Menüpunkte auf einer Ebene haben. Diese Heuristik werden viele schonmal gehört haben.
Ein weiterer Aspekt ist in diesem Kontext die Konzentrationsfähigkeit, bzw. wie leicht man abgelenkt wird. Gerade Personen mit ADHS werden schon von kleinen Animationen aus dem Konzept gebracht. Und selbst für alle anderen Nutzer sind animierte Werbeanzeigen oder Videos neben einem Artikel, den man grade Lesen will, eine Herausforderung.
Beim Schreiben von Texten sollte man auch an unterschiedliche Bildungsgrade und Sprachkenntnisse denken und, je nach Inhalt, Wert auf einfache Sprache legen. So müssen beispielsweise Texte von öffentlichen Stellen oder Ärzten für die gesamte Bevölkerung verständlich sein. Aber auch ältere Personen oder Leute, die eben nicht so sehr mit dem Computer vertraut sind, wie wir Entwickler, haben oft Schwierigkeiten, die Konzepte zu verstehen.
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Technische und ökonomische Einschränkungen
Ebenfalls oft vergessen werden technische Hürden. Nicht jeder kann oder will sich jedes Jahr ein neues Smartphone oder einen neuen Rechner kaufen. Gerade günstigere Geräte haben oft Bildschirme mit schlechteren Kontrasten und auch günstige Büro-Monitore oder Fernseher sind davon oft betroffen. Haben Fernseher in Besprechungsräumen so schlechte Kontraste, dass unterschiedliche Grauwerte nicht sichtbar sind, kann es beispielsweise während dem Teilen des Bildschirms in einem virtuellen Meeting zu Problemen kommen.
Neben der bereits angesprochenen Prozessor-Leistung kann auch die Umgebung selber kann ein Faktor sein. Die Bandbreite über Mobilfunk ist oft noch beschränkt und jeder hat schonmal von dem berüchtigten WLAN der Deutschen Bahn gehört.
Einschränkungen korrelieren oft auch mit ökonomischen Umständen. Viele der Menschen mit Behinderung haben keine Vollzeitstelle und können daher, neben der zusätzlichen finanziellen Belastung durch benötigte Hilfsmittel, nicht so viel Geld für Technik ausgeben.
Temporäre Einschränkungen
"We're all just temporarily abled. 1 in 5 people currently have a disability. 100% of people will have some form of disability in their lifetime." _~ Cindy Li_
Jeder ist von temporären Einschränkungen betroffen. Ein Kollege hat sich letztes Jahr die Achilles-Sehne gerissen und hat plötzlich festgestellt was für eine große Barriere die Treppen bei uns im Büro darstellen. Ein gebrochener Arm oder zur ein gezerrter Muskel oder eine Entzündung können ähnliche Auswirkungen haben. Und es müssen ja nicht gleich ein paar Wochen sein: In der Küche mit der Kaffee-Tasse in der Hand, wenn ich mich in der U-Bahn festhalte, zu Hause mit dem Kind auf dem Arm – in all diesen Situationen hat jeder plötzlich nur noch eine Hand, um sein Smartphone zu bedienen.
Außerdem kann die Nutzung von Accessibility Features auch einfach nur persönliche Präferenz sein. Unter den Entwicklern sind viele Keyboard-Nerds, die gerne (fast) alles am Rechner mit der Tastatur bedienen wollen – wenn man das gewöhnt ist, geht es einfach schneller. Und auch diese Nutzer profitieren z.B. von Web-Anwendungen, die sich gut mit Tastatur bedienen lassen – eindeutig ein Kriterium der Barrierefreiheit.
Synergien
Wer versucht, das alles zu beachten, wird sich jetzt vielleicht denken „Das können wir uns nicht leisten!“ oder „Das sprengt aber das Budget für dieses Projekt!“.
Ich habe hierzu eine Gegenfrage: Könnt ihr es euch leisten 15 – 27% der potenziellen User nicht zu erreichen, weil die Website nicht barrierefrei ist? So viele Menschen haben in Europa entsprechende Einschränkungen. Etwas mehr in Barrierefreiheit zu stecken schaft also auch direkt eine größere Zielgruppe und ist daher auch rein wirtschaftlich von Vorteil.
Und bei anderen Qualitäts-Kriterien wie Testing stellt heute hoffentlich auch niemand mehr die Frage, ob das wirklich nötig ist und ob man das nicht weg lassen kann, um Geld zu sparen. Unit-Tests gehören aus gutem Grund zum Standard-Repertoire der Entwickler, es wäre ja schließlich auch wahnsinnig nicht zu testen. Ähnlich sollte man auch mit Accessibility verfahren.
Tatsächlich ist es gar nicht so viel Mehraufwand, wenn das Thema gleich of Anfang mitgedacht und beachtet wird. Wer sich nämlich aktiv um Barrierefreiheit kümmert, gewinnt auch direkt an anderen Stellen dazu.
SEO
Barrierefreie Inhalte können automatisch von Suchmaschinen viel besser indiziert werden. Von semantischen Inhalten profitieren alle User-Agents, Google ist am Ende des Tages ja auch nur ein Besucher der Website ohne Augen und Ohren.
Insbesondere wenn Inhalte mit Audio, wie Video oder Podcasts, angeboten werden lohnt es sich aus SEO-Gründen, diese Inhalte auch in Textform anzubieten. Also z.B. ein Video-Tutorial auch als Text-Beschreibung, Untertitel, oder ein Transkript des Podcasts zum Nachlesen.
Barrierefreie Inhalte können automatisch von Suchmaschinen viel besser indiziert werden.
Performance & Nachhaltigkeit
Wird die Website für langsamere, leistungsärmere Geräte optimiert, bedeutet das im Umkehrschluss automatisch auch einen generellen Performance-Gewinn. Von besserem Caching, kleineren Dateigrößen und sparsamen Skripten profitieren alle Nutzer – und ganz nebenbei auch noch das SEO-Ranking. Und performantere Websites, die sich an Standards halten, sind auch noch energiesparender und damit zusätzlich noch ein Gewinn für die Akkulaufzeit der Endgeräte und die Umwelt.
Sicherheit
Etwas schwieriger ist es tatsächlich im Bereich Sicherheit. Die meisten Sicherheits-Features fügen zusätzliche kognitive Barrieren ein. Ein Login oder Formular mit einem Captcha ist immer schwieriger auszufüllen als eines ohne. Die gängigen Captcha-Plugins bieten zwar Alternativen für Nutzer mit Seheinschränkungen, aber auch für reguläre Nutzer sind sie nicht immer einfach. Und auch die wichtige 2-Faktor-Authentifizierung ist eine größere Hürde, auch wenn Sie definitiv einen großen Beitrag zur Sicherheit des Systems leistet. Technologien wie Passkeys versuchen dieses Problem zu minimieren. Wenn noch höhere Sicherheitsanforderungen im Spiel sind, beispielsweise Enterprise Client Certificates, wird es noch schwieriger. Beim Thema Sicherheit muss man sich also oft explizit Gedanken zur Barrierefreiheit machen.
Alle profitieren von Barrierefreiheit
Ein Argument, das ich auch schon öfters gehört habe: „Wir brauchen keine Barrierefreiheit, keiner der Nutzer hat Einschränkungen!“ Gerade bei internen Systemen wird das öfters angebracht. Aber auch in internen Platformen sollten barrierefrei sein. Eine Kollegin von mir hat mir das neulich gesagt, nachdem ich sie auf einen Beitrag in unserem internen Wiki angesprochen habe. Um ein bestimmtes Text-Layout umzusetzen, hatte sie die Texte in Bilder gepackt und diese Bilder entsprechend platziert. Warum das nicht gut ist? Und warum es mit Sicherheit doch Nutzer gibt, für die das eine Barriere ist?
Dazu zwei Gedanken.
Hat wirklich keiner der Nutzer Einschränkungen? Viele der anfangs beschriebenen Einschränkungen sind nicht sichtbar. Einschränkungen in der Farbwahrnehmung (ich erinnere an meinen Kommilitonen) sieht man niemandem an. Eine Sehschwäche kann man oft an der Brille erkennen, aber wie stark diese ist, weiß man nicht. Ein Kollege von mir hat eine so hohe Sehstärke, die Schriftgröße in seiner IDE ist auf 48pt eingestellt. So kann er Text gut lesen. Ein Ändern der Schriftgröße ist aber nur bei „echtem“ Text sinnvoll möglich, und selbst ich als Nicht-Brillenträger hätte den Text gerne etwas größer gehabt. Durch das Zoomen wurden die Pixel-Texte aber sofort unscharf, er recht auf meinem 2K-Monitor.
Und die Suchfunktion des Wikis ist auch darauf angewiesen, dass die Texte als tatsächliche Texte vorliegen. Andernfalls können die Inhalte nicht indiziert werden und die Suchergebnisse werden damit schlechter.
Dazu kommt, dass das morgen schon ganz anders sein kann. Über temporäre Einschränkungen habe ich oben schon geschrieben und wir alle werden älter. Es kann also gut sein, dass Nutzer in Zukunft andere Bedürfnisse haben als heute. Oder das in Zukunft andere Nutzer das System nutzen. Was ist, wenn morgen ein neuer Kollege im Unternehmen anfängt, der eine Einschränkung hat. Soll dann alles neu gemacht werden? Nein, sicher nicht.
Also auch, wenn man in ersten Moment dazu verleitet ist zu sagen „Hier ist niemand betroffen“, sollte man berücksichtigen, dass das mit ziemlicher Sicherheit schon heute nicht stimmt – und in Zukunft erst recht nicht.
Fazit
Barrierefreiheit ist ein großes und wichtiges Thema, dass alle betrifft. Barrierefreiheit darf aber eben kein Feature sein, das im Backlog landet und das man irgendwann mal macht, wenn der PO es einpriorisiert oder man halt Zeit hat. Barrierefreiheit ist nicht nur eine Checkbox in der CI-Pipeline sein, die man ohne ein Verständnis davon erfüllen muss. Barrierefreiheit darf nicht nur eine Maßnahme zur Risikominimierung sein, um nicht verklagt oder abgemahnt zu werden.
Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht!
…, etwas das uns alle was angeht und von dem alle profitieren. Und selbst wenn man die Moral nicht ganz so hoch stellt, ist Barrierefreiheit eine Maßnahme um wirtschaftlich erfolgreicher zu sein in dem alle Nutzer erreicht und dadurch die Zielgruppen vergrößert und die Conversions erhöht werden.